Die Vertiefungskurse dauern jeweils ein Jahr, sie beginnen im Oktober und enden im darauffolgenden Jahr zum 30. September. Die aufgeführte Abfolge wird rollierend durchgeführt.
Der herausragende indische Meister Candrakīrti verfasste ca. im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der goldenen Epoche des Buddhismus, seinen berühmten Kommentar zu Nāgārjunas Grundversen zum Mittleren Weg (Skt. Mūlamadhya makakārikā). Wie der Titel „Ergänzung zum Mittleren Weg“ (Skt. Madhyamakāvatāra) andeutet, versteht Candrakīrti seine Schrift als Einführung beziehungsweise als Ergänzung zu [Nāgārjunas Abhandlung über den] Mittleren Weg. Seine klare Darstellung wirkt wie ein Schlüssel, mit dem man sich die tiefgründige Philosophie des Mittleren Weges und speziell der Prāsaṅgika Mādhyamikas erschließen kann.
In diesem Jahresstudienkurs wird der Schwerpunkt auf zentrale und komplexe philosophische Fragen gelegt. Auf neuartige und spannende Weise wird ein Vergleich zwischen der buddhistischen Lehre und westlicher Philosophie gezogen. Im Spiegel westlicher Philosophen und aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt es, das vorhandene Wissen über den Buddhismus anzuwenden und in Hinblick auf neue Denkarten zu präzisieren. So werden konkrete Themen wie Konstruktivismus, Sprachphilosophie, die säkulare Ethik von Epikur und den Stoikern bis hin zu wissenschaftlichen Theorien wie Quantenphysik behandelt.
Es gibt unter buddhistischen Gelehrten verschiedene Interpretationen der Wirklichkeit. Insgesamt werden – entsprechend der von tibetischen Gelehrten vorgenommenen Systematisierung – vier hauptsächliche Systeme von Lehrmeinungen (Skt. Siddhānta) bzw. Philosophien dargestellt:
Vaibhāṣika und
Sautrāntika, die man als Lehrmeinungen des Realismus bezeichnen kann und nach tibetischer Interpretation als philosophische Schulen des Śrāvakayāna gelten.
Cittamātra bzw. Yogācāra, die Lehrmeinung des Idealismus.
Madhyamaka, die Philosophie des Mittleren Weges. Diese wird in ihren Charakteristika und Unterschulen der Svātantrika- und Prāsaṅgika-Mādhyamikas studiert.
Jede der Lehrmeinungen wird anhand ihrer Aussagen zu folgenden Themen vorgestellt:
Grundlage – wie existiert die Wirklichkeit?
Pfad – wie ist der Weg zur Befreiung bzw. Buddhaschaft beschaffen?
Ergebnis – was ist das zu erlangende Resultat des Pfades?
Anhand von sieben Gliederungspunkten (1. Definition, 2. Untergliederung, 3. Etymologie, 4. Objekte, 5. Subjekte, 6. Selbstlosigkeit und 7. das System der Stufen und Pfade) werden wichtige Themen der buddhistischen Phänomenologie, Ontologie, Erkenntnistheorie und Logik sowie der Erlösungslehre vertieft.
Als Grundlage dient der Text „Der kostbare Kranz der Lehrmeinungen“ von Köntschok Dschigme Wangpo (1728-1791), einem großen tibetischen Gelehrten der Gelug-Tradition. Hinzu kommen Auszüge aus weiteren Originaltexten der jeweiligen Schulen und Erläuterungen von Geshe Thubten Ngawang, dem Begründer des Studiums.
Die Inhalte werden durch kurze Lektionen über Logik und Erkenntnistheorie ergänzt, um das eigene Denken zu schulen. Hinzukommend werden exemplarisch einige kurze Biografien von buddhistischen Meistern behandelt, die maßgeblich die Philosophien geprägt haben.
Um die buddhistischen Sichtweisen besser verstehen und einordnen zu können, werden einige wichtige, nicht-buddhistische Systeme, wie die Sāṃkhyas, behandelt. Auch einzelne westliche philosophische Sichtweisen und Begrifflichkeiten werden vergleichend eingeführt. Auf diese Weise sollen die verschiedenen Sichtweisen nicht nur theoretisch, sondern auch in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Meditation und persönliche Entwicklung betrachtet werden.
In diesem Abschnitt des Vertiefungsstudiums liegt die Konzentration auf der tiefgründigen Sichtweise der Prāsaṅgika-Mādhyamikas, die im indisch-tibetischen Buddhismus gemeinhin als höchste Sichtweise und damit als präziseste Beschreibung der letztlichen Realität gilt.
Als Quellentext wird das berühmte 9. Kapitel über die Weisheit aus dem Klassiker „Anleitung auf dem Weg zum Erwachen“ (Bodhicaryāvatara) des indischen Meisters Śāntideva eingesetzt, dessen Werk bereits größtenteils in den ersten beiden Jahren des Vertiefungsstudiums gelehrt bzw. erläutert wurde. Zur Erklärung des teilweise schwer zu erschließenden 9. Weisheitskapitels werden außerdem weitere Schriften hinzugezogen.
Zentrales Thema von Śāntidevas Weisheitskapitel ist die rechte Erkenntnis der Leerheit (Śūnyatā) entsprechend der Prāsaṅgika-Mādhyamika-Philosophie. Die Leerheit besagt das Fehlen einer vermeintlich autonomen Existenz der Phänomene. Um die Subtilität dieser Wirklichkeitsbeschreibung nachvollziehen zu können, kritisiert und widerlegt Śāntideva verschiedene Lehrmeinungen und Philosophien. Der letzte Teil beschreibt eine Unmöglichkeit einer inhärenten Existenzweise der Dinge.
Begleitend werden einige Lektionen und Kategorien aus der buddhistischen Logik und Erkenntnistheorie eingebracht, um die Analyse der buddhistischen Gelehrten besser nachvollziehen zu können.