Editorial von Birgit Stratmann
Liebe Leserinnen und Leser,
Erziehung, Lernen, Bildung – das ist ein großes Thema im Buddhismus und Schwerpunkt in diesem Heft. Das Lernen steht für Buddhisten am Anfang der spirituellen Entwicklung, ihm folgt das Nachdenken und Meditieren. Die buddhistischen Klöster waren nicht nur religiöse Zentren, sondern auch Bildungseinrichtungen. Der Bildungsbegriff ist allerdings anders als bei uns: Nicht um die Wissensanhäufung zum Zwecke weltlicher Ziele geht es, sondern um das Wissen im Dienste der Geistesschulung und damit für das Erreichen spiritueller Ziele.
Im Westen haben wir einen anderen Begriff von Erziehung. Diese soll vor allem dazu dienen, junge Menschen fit für den Beruf und die Gesellschaft zu machen. Der Dalai Lama betont auf öffentlichen Vorträgen und Konferenzen immer wieder, dass Intelligenz und Wissensanhäufung allein nicht ausreichen. Die Herausbildung des Herzens, die Schulung von Liebe und Mitgefühl ist wesentliche Aufgabe der Erziehung, wenn sie glückliche Menschen in einer friedlichen Gesellschaft will. Der Buddhismus kann einiges zu einem neuen Verständnis von Erziehung beitragen, wie die Autoren in diesem Heft belegen.
Geshe Thubten Ngawang (1932-2003) unterstreicht, wie wichtig es ist, dass sich Eltern und Lehrer beispielhaft verhalten, denn Kinder lernen von den Erwachsenen. Wenn die Eltern unzufrieden sind und sich ständig streiten, wird der junge Mensch das irgendwann für normal halten. Diese Einstellung nimmt er mit in die Welt und in seine eigenen Beziehungen. Wenn zu Hause eine ruhige, harmonische Atmosphäre herrscht und Konflikte konstruktiv ausgetragen werden, fühlt sich das Kind aufgehoben und entwickelt mehr Vertrauen in seine eigenen Potenziale für Liebe und Mitgefühl.
Dagyab Rinpoche ist einer der wenigen tibetischen Meister im Westen, die ein „normales” Famlienleben führen. Christine Rackuff befragte ihn über seine Erfahrungen als Vater von zwei Kindern. Rinpoche sieht das größte Problem in der starken Betonung des Individualismus und des Ich-Gedankens in der westlichen Kultur. In Asien hingegen sei das Wir-Gefühl, der Gemeinschaftssinn stärker ausgeprägt, was die spirituelle Entwicklung des jungen Menschen fördere. Aus dem Familienalltag berichtet Piero Ferrucci und wirft die Frage auf: Was können wir von unseren Kindern lernen? Während er früher viel Zeit zum Lesen, Nachdenken und Meditieren gehabt habe, beherrsche heute, als Familienvater, „die Jagd auf Spielzeugrädchen meinen Alltag. Am Abend bin ich völlig erledigt. Und trotzdem hat mein Leben an Tiefe und Reichtum gewonnen. Ich habe festgestellt, dass sich in jeder Situation, und sei sie noch so frustrierend oder banal, Überraschungen und Veränderungschancen verbergen.”
Wir starten in dieser Ausgabe eine neue Serie über die vier buddhistischen Traditionen Tibets. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Nyingma- Schule. Wir knüpfen damit an Ratschläge an, die S.H. der Dalai Lama letztes Jahr während der Unterweisungen in Zürich gab. Dort betonte der Dalai Lama mit Nachdruck, wie wichtig eine nichtsektiererische Haltung sei. Man darf hinzufügen, dass dies besonders im Westen gilt, wo viele buddhistische Traditionen nebeneinander bestehen. Egal, ob ein Übender mehrere Traditionen in seine Praxis integriert oder sich auf eine Tradition konzentriert, Offenheit und Wohlwollen allen gegenüber sei unabdingbar, so der Dalai Lama.
Schwerpunkt-Themen: Erziehung, Lernen, Bildung