Tibet-Buddhismus 45 Vergänglichkeit

Tibet & Buddhismus: Heft 45 2/1998 Schwerpunkt-Thema: Tod und Vergänglichkeit

Editorial von Geshe Thubten Ngawang

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

herzlich grüße ich die Mitglieder, Studenten, Abonnenten, Spender, Mitarbeiter und alle, die unsere Vereinsaktivitäten unterstützen. Ich möchte Ihnen dafür danken, daß durch Ihre Bemühungen auch während meiner Indienreise alle notwendigen Bedingungen für die Durchführung unserer Aktivitäten zusammengekommen sind. Auf meiner Reise habe ich mich von der ordnungsgemäßen Verwendung der Flüchtlingshilfegelder für die Tibeter überzeugen können. Überall bekundeten mir die Menschen große Dankbarkeit für Ihre Hilfe, und ich möchte Sie Ihnen auf diesem Wege weitergeben. In Sera kam ich auch mit unserem verehrten Lehrer Kensur Geshe Ugyen Rinpoche zusammen. Kensur Rinpoche ist bei guter Gesundheit und läßt Sie alle herzlich grüßen. Im Tantrakolleg Gyüme nahm ich an einer internationalen Konferenz über das buddhistische Tantra teil. Lamas und Gelehrte aus Indien, Tibet und dem Westen – aus allen Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus – waren gekommen. Ich hatte Gelegenheit, einen Vortrag zu halten und mit ihnen über philosophische Punkte zu debattieren, was mir eine selten gewordene Freude war.

Das alles überstrahlende Ereignis dieses Jahres wird der Besuch S. H. des Dalai Lama in unserem Klausurhaus sein. Die Vorbereitungen für die siebentägige Veranstaltung laufen auf Hochtouren. Allen, die bisher schon mitgeholfen haben, möchte ich danken und Sie bitten, weiter Verantwortung zu tragen und auch Geduld aufzubringen. Es lohnt sich, Schwierigkeiten für diese wichtige Veranstaltung zu ertragen, da sie sicher große Auswirkungen für unsere ganze Gesellschaft haben wird. Das Glück der Wesen auf dieser Welt ist sehr stark von den Menschen abhängig. Diese werden von ihrem Geist gelenkt. Die Buddhalehre, vor allem deren Essenz, der Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim), ist in der Lage, diesen Geist zum Positiven zu verändern. Wenn wir also zum Wohlergehen der fühlenden Wesen beitragen wollen, setzen wir mit der Organisation dieses Besuches an einer entscheidenden Stelle an.

Empfehlenswert ist es, regelmäßig an den Gebeten in Hamburg teilzunehmen. Vor allem die Tårå-Gebete haben eine große Kraft, uns vor Hindernissen zu schützen. Der Begründer der Kadam- Tradition, Atioea, verließ sich ganz auf diese Buddha-Erscheinung, die die Heilsaktivität aller Erleuchteten manifestiert. Tårå gelobte, sich um die Nachfolger Atioeas zu sorgen. Auch Gebete an Mahåkåla sind immer hilfreich. Wenn wir wirklich Schutz bei unserer Dharmapraxis wünschen, sollten wir uns darüber hinaus nicht allzu sehr um all die sogenannten „Dharmabeschützer“ kümmern, die es im tibetischen Buddhismus gibt. Das Wichtigste gerade für die Schüler im Westen ist eine Einstellung der Zufluchtnahme zu den Drei Juwelen von Buddha, Dharma und Sa‡gha und die Einhaltung einer guten Ethik auf der Basis des Gesetzes von Handlungen und ihren Wirkungen (Karma).

Unter den Tibetern gibt es heutzutage eine Tendenz, sich mehr auf äußere Schutzgottheiten, deren Kulte in der mehr als tausendjährigen Tradition Tibets entstanden, zu stützen, als auf die eigene Dharmapraxis. In diesem Zusammenhang gibt es Konflikte um die Verehrung des Dharmabeschützers Schugden unter den Tibetern. Ich erhalte viele Fragen zu diesem Thema, die ich leider nicht alle einzeln beantworten kann. Ich werde in der nächsten Nummer dieser Zeitschrift darauf eingehen.

Im Westen sollte eine solide Grundlage gelegt werden, die sich auf einwandfreie Lehrer stützt, welche die Kriterien eines geistigen Freundes, wie sie der Buddha erläutert hat, erfüllen. Vor allem sollten die Lehrer eine gute Ethik, Mitgefühl und Weisheit verkörpern und auf der Grundlage der Vier Edlen Wahrheiten lehren. Wenn durch das Anvertrauen an einen Lehrer unser Verhalten nicht besser wird und wir uns sektiererisch verhalten, nennt man das den „umgekehrten Dharma“. Wird unser Verhalten aber disziplinierter, haben wir einen echten Schutz durch den Dharma und brauchen uns nicht um allzu viele Schutzgottheiten zu kümmern. Der Dharma ist unsere eigentliche Zuflucht, nicht aber in der Gesellschaft Tibets entstandene überflüssige Kulte, die nur zu noch mehr Problemen führen.

Der Dalai Lama gilt heute als ein Führer der buddhistischen Bewegung. Er rät uns, alle Schulen des Buddhismus gleichermaßen zu respektieren, uns auf unseren gemeinsamen Lehrer Buddha OEåkyamuni zu stützen und die tiefgründigen philosophischen Belehrungen des Buddhismus zu bewahren. Ich wünsche Ihnen allen von Herzen Glück an Körper und Geist und bete dafür, daß sich Harmonie und Mitgefühl in unserer Gesellschaft weiter ausbreiten werden.

Heft 45 - 2/1998

Schwerpunkt-Thema: Tod

  • Editorial (PDF)
  • Geshe Thubten Ngawang: Über den Tod meditieren – alle Erscheinungen dieses Lebens hinter sich lassen (PDF)
  • Interview mit Frank Ostaseski von Birgit Stratmann: Hospiz-Arbeit: Tag für Tag dem Tod begegnen (PDF)
  • Oliver Petersen: Meditation: Achtsamkeit auf die Empfindungen (PDF)
  • Lama Anagarika Govinda: Zeit und Raum und das Problem des freien Willens (PDF)
  • Interview mit Traleg Kyabgön Rinpoche von Anke Rasper: „Der tibetische Buddhismus ermutigt zum Denken“ (PDF)
  • Eva-Maria Koch: Chancen und Grenzen konzeptuellen Denkens (PDF)
  • Cao Chang-Ching: Das Recht des tibetischen Volkes auf Unabhängigkeit (PDF)
  • Dalai Lama: Botschaft zum 38. Jahrestag des tibetischen Volksaufstandes (PDF)
  • Aktuelles (PDF)
  • Internes (PDF)
  • Buchbesprechungen (PDF)