Editorial von Geshe Thubten Ngawang
Liebe Mitglieder und Freunde,
zum Jahresanfang möchte ich allen Mitgliedern des Tibetischen Zentrums, den Studenten und allen anderen Freunden, die Tibet und Buddhismus lesen, alles Gute wünschen.
Unsere Bemühungen, die Lehre des Buddha zu erläutern, sie zu studieren und Erfahrungen in ihrer Anwendung zu sammeln, tragen nun erfreuliche Früchte; denn sie haben eine nützliche Wirkung auf den Geist vieler Menschen. Dies entspricht auch der Zielsetzung, die für Geshe Rabten Rinpoche, den Gründer dieses Zentrums, ausschlaggebend war, als er sich 1974 auf Bitten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama entschloß, aus Indien nach Europa zu kommen: Es gebe westliche Menschen, die sich für den Buddhismus interessieren, die eine innere Neigung zur Lehre des Buddha verspuren. Er selbst habe sich zwar sehr wohl in seiner Einsiedelei in Dharamsala gefühlt und wäre gern dort geblieben, Seine Heiligkeit habe ihn aber ersucht, nach Europa zu gehen, weil er es für äußerst wichtig gehalten habe, den interessierten Menschen die Lehre des Buddha zu vermitteln. Zu diesem Zweck gründete Geshe Rabten Rinpoche dann in Europa buddhistische Zentren, unter anderem auch das unsere. Seit seiner Gründung hat unser Zentrum eine gute-Entwicklung erlebt, dank der vielfaltigen Bemühungen derer, die als Präsidenten oder Vorstandsmitglieder Verantwortung getragen haben, die durch materielle Unterstützung geholfen haben oder die als Studenten im Hause des Zentrums die Last der täglich anfallenden Arbeiten auf sich genommen haben und diese oft ohne Unterschied von Tag und Nacht durchfuhren. Nur aufgrund dieser gemeinsamen Anstrengung und aufgrund der Mithilfe vieler Menschen ist eine solche erfreuliche Entwicklung, wie wir sie bisher beobachten konnten, möglich. Damit verwirklichen wir auch nach besten Kräften die ursprüngliche Zielsetzung Geshe Rabten Rinpoches.
Das Zentrum kann durch die gemeinsame Bemühung seine wesentliche Aufgabe erfüllen, die Lehre, das Studium und die Anwendung des Buddhadharma zu ermöglichen. Das ist unser eigentliches Fundament. Deshalb möchte ich Ihnen allen, die daran beteiligt sind, meine Freude über Ihre Hilfe mitteilen und Ihnen ganz herzlich danken. Und auch für die Zukunft ist diese gemeinsame Bemühung das Wichtigste; deshalb möchte ich Sie bitten, sich weiterhin für das Bestehen und gute Gedeihen des Zentrums mitverantwortlich zu fühlen und dies nach besten Kräften zu unterstützen. Tun Sie dies bitte mit einer Einstellung der Entschlossenheit und auch der ruhigen Zuversicht, daß Sie mit Ihrer Hilfe der menschlichen Gemeinschaft einen wertvollen Dienst leisten.
Das Tibet House in New York hat das Jahr 1991 den Tibeter gewidmet und zu einem Internationalen Jahr für Tibet aufgerufen. Mit einer Vielzahl von Aktivitäten in verschiedenen Ländern soll den Tibetern geholfen werden. Dies ist etwas, was für die Sache der Tibeter sicherlich notwendig ist, auch wenn es mir nicht leicht fallt, um diese Hilfe zu bitten. Bisher haben viele von Ihnen über die Flüchtlingshilfe im Tibetischen Zentrum vielen Tibetern im indischen Exil materielle Hilfe gegeben. Dafür danke ich Ihnen sehr, und diese Hilfe ist auch weiterhin notwendig. Das wichtigste Ziel für uns Tibeter bleibt, daß das tibetische Volk seine politische, kulturelle und religiöse Freiheit wiedererlangt, um die Aufgabe wahrnehmen zu können, mit eigener Kraft im eigenen Land dafür Sorge zu tragen, daß es als Volk mit seiner eigenen Identität und mit seinen Errungenschaften auf kulturellen, religiösen und anderen Gebieten lebendig bleibt. In der gegenwärtigen Situation ist die Lage der Tibeter wie die eines lebensgefährlich Erkrankten. Für alles, was die Mitglieder und Freunde des Tibetischen Zentrums im Einklang mit den Gedanken Seiner Heiligkeit des Dalai Lama dazu tun, daß die Tibeter sich aus dieser lebensbedrohlichen Situation befreien können, möchte ich meine freudige Zustimmung und tiefe Dankbarkeit ausdrücken. Auch möchte ich mit diesen Worten von Herzen all den anderen Gruppen danken, die sich mittlerweile in Deutschland für die Unterstützung der Tibeter gebildet haben, sowie den vielen Menschen, die in Eigeninitiative helfen. Es ist offensichtlich, daß die Tibeter sich in einer äußerst bedrohlichen und hilfsbedürftigen Lage befinden. Dies kann die Weltöffentlichkeit deutlich sehen.
Wir sind an einer Grenze angelangt, an der die Gefahr des völligen Untergangs unseres gesamten Volkes einschließlich seiner Kultur droht. Alle unter Ihnen, die Interesse und Verantwortung empfmden gegenüber Tibet, seinen Menschen und seiner Kultur, möchte ich in allem bestärken, was Sie tun, damit die Freiheit Tibets so bald wie möglich wiederhergestellt wird.
Es gibt Diskussionen darüber, inwieweit Tibet in seiner Geschichte vor 1959 ein unabhängiger Staat war oder nicht. Wie wir alle wissen und immer wieder erleben, ist die Geschichte äußerst wechselhaft. In einem Jahrhundert oder selbst in einem Jahrzehnt beobachten wir oft gewaltige Veränderungen in der Geschichte eines Landes. Das gilt für jedes Land auf der Welt. Deshalb sind Ansprüche, die aus der wechselhaften Geschichte in der Beziehung zweier Länder abgeleitet werden, immer sehr fraglich. Was die faktische Situation Tibets vor 1959 und die Ereignisse seit 1949 angeht, so möchte ich sie kurz anhand meiner eigenen Erlebnisse in dieser Zeit darstellen. In den Jahren 1949 und 1950 lebte ich in einem Kloster in der Provinz Kham in Osttibet und studierte die Lehre des Buddha. Zu dieser Zeit sah ich zum ersten Mal Chinesen, die zu uns kamen. Sie sagten, die gesamte Welt sei von einem großen Feind bedroht, und es sei nun die dringendste Aufgabe, diesen Feind abzuwehren. Zu diesem Zweck und um uns zu helfen, wurden sie bitten, unsere Straßen zur Durchreise benutzen zu dürfen. In der darauffolgenden Zeit beteuerten sie, daß sie sich als unsere Freunde betrachteten ‘und uns dabei helfen wollten, unser Land zu entwickeln. Damit gaben sie nicht nur einen Grund an, vorübergehend unsere Wege zu benutzen, sondern für längere Zeit in unserem Land zu bleiben. Nach weiteren ein bi zwei Jahren wurden sie noch deutlicher. Sie sagten, unser Gesellschaftssystem müsse unbedingt verändert werden, es gäbe viele Fehler, unsere Religion sei nicht gut, sie sei wie Gift, und so weiter. Direkt und indirekt brachten sie immer wieder Propaganda vor, die unserer Kultur und unserer Religion schadete. Im Jahre 1959 schließlich nahmen sie mit Gewalt endgültig die Herrschaft in Tibet an sich, das ganze Land stand unter chinesischer Kontrolle, und die Tibeter selbst hatten keinerlei Macht mehr.
Auf diese Weise ging den Tibetern die Kontrolle über ihr eigenes Land an die Chinesen verloren, und diese wurden vorläufig die Machthaber; vor dieser Zeit jedoch - noch in den Jahren 1949 und 1950, als ich in Kantse in Kham lebte, - ist nicht ein Wort darüber an mein Ohr gedrungen, daß Tibet unter der Herrschaft Chinas stunde. Die Tibeter selbst regierten ihr Land und hatten volle Freiheit, sich zu bewegen, wie sie wollten. Erst in den Jahren seit 1949 und nur mit den Mitteln des Betrugs und schließlich mit roher Gewalt haben die Chinesen die Herrschaft an sich genommen. Das waren die Verhaltnisse, wie sie sich de facto darstellten.
Als buddhistischer Lehrer, der anderen erläutert, was aufzugeben und was anzunehmen ist, liegt mir nichts daran zu lügen. Aber es gibt keine Einwände dagegen - auch vom Standpunkt der Religion nicht -, daß man das, was man an Glück und Leid im Leben selbst erlebt hat, offen darlegt. Und auch im Hinblick auf die Situation eines Volkes gibt es wohl nichts, was dagegen spricht.
Sicher ist der gegenwärtige Zustand, daß das Schicksal Tibets, seiner Menschen und seiner Kultur ganz und gar von Entscheidungen bestimmt wird, die in ein paar chinesischen Büros in Lhasa, Shigatse und Gyantse getroffen werden und den Tibetern keinerlei Bewegungsfreiheit lassen, nicht erträglich. Sicher streben wir eine andere Situation an, in der die Menschen die Freiheit haben zu gehen, wohin sie möchten; sei es für ihre Gesundheit; sei es, um zu lernen, was sie lernen möchten; sei es, um neue Erfahrungen zu sammeln; sei es, um mit den Menschen zusammenzukommen, die sie treffen möchten. Deshalb danken wir Ihnen für alles, was Sie tun, damit in Tibet möglichst bald wieder Freiheit herrscht. Naturgemäß sind Ihre Bemühungen um so wirksamer, je mehr die vielen einzelnen Personen und Gruppen, die sich für die Tibeter einsetzen, zusammenarbeiten. Es ist ähnlich wie bei einem Kranken, der behandelt werden muß: Wenn mehrere Arzte mit gegensätzlichen Vorstellungen und Behandlungsmethoden versuchen, ihn zu heilen, wird ihm das wenig nutzen. Ebenso wird die Hilfe für Tibet gering sein, wenn keine Zusammenarbeit stattfindet, sondern jede Einzelperson und jede einzehre Gruppe nur ihre eigenen Vorstellungen und Vorgehensweisen anwenden will. Wenn Ihre Bemiihungen für Tibet in erster Liie zu neuen Konflikten unter Ihnen selbst fuhrt, so sind die Auswirkungen für Sie unerfreulich und auch für die Tibeter wenig nützlich.
Sicher kennen Sie die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, den Tibetern zu helfen, und Sie wissen, wie sie diese anwenden können. Bei der Auswahl sollten diejenigen, die aktiv helfen, hauptsächlich darauf achten, welche Auswirkungen ihre Aktivitäten hervorbringen, welchen vorläufigen oder langfristigen Nutzen sie haben, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und inwieweit sie mit den tiefgründigen und weitblickenden Gedanken Seiner Heiligkeit des Dalai Lama übereinstimmen, die auf dem Glauben an die Kraft der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen. Denn Seine Heiligkeit strebt stets das an, was sowohl einem selbst als auch den anderen, sowohl dem einzelnen Menschen als auch der Gemeinschaft, von Nutzen ist. Aus eigener langjähriger Erfahrung wissen wir, daß sein Wirken bei allem darauf abzielt, sowohl den Tibetern als auch allgemein den Menschen in der Welt zu dienen. Es zeichnet uns als intelligente Menschen aus, daß wir kleinere, kurzfristige Vorteile zugunsten eines größeren, weiterführenden Vorteils vernachlässigen können. Deshalb möchte ich den Dank für Ihre Hilfe mit der Bitte verbinden, ihre vielfältigen Bemühungen für die Tibeter im Einklang mit den Zielen Seiner Heiligkeit zu einer gemeinsamen Kraft zu verbinden.
Schwerpunkt-Thema: Der Dalai Lama besucht Deutschland