Geshe Thubten Ngawang (1932-2003), der das Systematische Studium des Buddhismus konzipierte, war einer der großen tibetischen Gelehrten, die ihre Ausbildung teilweise noch im alten Tibet erhielten. Er war von 1979 bis zu seinem Tod im Januar 2003 geistlicher Leiter des Tibetischen Zentrums.
Der Nomadenjunge Döndrup Tarchin, wie Geshe Thubten Ngawang mit weltlichem Namen hieß, wuchs in der Provinz Tö im Westen Tibets in einer Nomadenfamilie auf. Seine Mutter brachte ihn im Jahre 1932 während einer Pilgerreise zum heilgen Berg Kailash zur Welt.
Schon als kleiner Junge lernte er von seiner Schwester lesen und schreiben. Oft las er beim Hüten der Tiere die Gebetstexte seines Vaters oder ging in die Tempel der Umgebung, um die Meister zu sehen, die hier auf dem Weg von oder nach Lhasa Halt machten.
Seine Eltern bemerkten bald sein starkes religiöses Interesse. Im Alter von elf Jahren trat er in die große Klosteruniversität Sera bei Lhasa ein, in der zu jener Zeit mehr als 5.500 Mönche lebten und sich mit großer Intensität dem Studium und der Praxis der buddhistischen Lehre widmeten.
In den ersten Jahren im Kloster Sera lernte Geshe Thubten Ngawang viele Schriften, Meditations- und Gebetstexte auswendig und übte ihre Rezitation ein. Im Alter von 14 Jahren wechselte er in das Kloster Dargye in der Provinz Kham im Osten Tibets, mit dem sein Vater besonders eng verbunden war. Sein hauptsächlicher Lehrer dort war Geshe Dschampa Khedrup.
Von diesem seinem wichtigsten Lehrer erhielt er Unterweisungen zu bedeutenden Schriften, Gelübde und Initiationen. Geshe Dschampa Khedrup gab ihm unter anderem Belehrungen über den »Stufenweg zur Erleuchtung« (Lamrim), über viele Texte zur Geistesschulung (Lo-dschong), zum »Lebensweg eines Bodhisattvas« (Bodhisattvacaryavatara) des großen indischen Meister Shantideva.
Mit 25 Jahren kehrte er wieder nach Lhasa in die Klosteruniversität Sera zurück, um sich noch intensiver dem Studium zu widmen. Dort war Geshe Rabten, der das Tibetische Zentrum mit gegründet hatte, sein Hauptlehrer. Das Studium in Sera umfasst mindestens vierzehn Klassen; es beginnt mit den Grundlagen der Logik und Erkenntnis und führt zu den großen indischen Schriften, den Lehrreden des Buddha und den Kommentaren indischer Meister.
Über fünf Hauptgebiete wird anhand der Werke der großen indischen Meister schrittweise und sehr detailliert gelernt und debattiert: Über die Gültige Erkenntnis (Pramana), über die Vollkommenheiten (Paramita), über die Rechte Ansicht des Mittleren Weges (Madhyamaka), über die Disziplin (Vinaya) und über das Gebiet des Höheren Wissens (Abhidharma).
Im Jahre 1959 wurde sein Studium durch die Invasion und die Machtübernahme des kommunistischen China abrupt unterbrochen. Wie Zehntausende anderer Tibeter folgte er Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama nach Indien ins Exil. Die indische Regierung nahm die Flüchtlinge auf und bot ihnen Unterkunft in der nordindischen Provinz Assam. Zehn Jahre lang lebten sie in diesem Verband, so dass es den Mönchen möglich war, ihre Studien fortzuführen.
Allmählich errichteten die verschiedenen Traditionen in Indien wieder ihre Klöster. Im Jahr 1969 ging Geshe Thubten Ngawang nach Mysore in Südindien, wo nahe der Kleinstadt Bylakuppe tibetische Flüchtlingssiedlungen mit angrenzenden Klöstern gegründet wurden. Dort arbeitete er am Neuaufbau des Klosters Sera mit und setzte seine Ausbildung fort.
So konnte er nach seiner Flucht aus Tibet in Indien weitere 19 Jahre lang die buddhistische Religion studieren, insgesamt also über einen Zeitraum von 37 Jahren. Zum Abschluss seiner Studien legte er die Prüfung zum »Lharampa-Geshe« ab, einem Titel, der nur einer Auswahl der besten Gelehrten verliehen wird. Geshe Thubten Ngawang bestand alle Prüfungen mit Auszeichnung.
Im Jahre 1977 wurde in Hamburg auf Anregung von Geshe Rabten das Tibetische Zentrum e.V. gegründet mit dem Ziel, einen ständig anwesenden, qualifizierten Lehrer nach Hamburg einladen zu können. Auf Geshe Rabtens Bemühungen hin und aufgrund der Einladung des Tibetischen Zentrums wählte Seine Heiligkeit der Dalai Lama, der Schirmherr des Tibetischen Zentrums, Geshe Thubten Ngawang aus und bat ihn, nach Deutschland zu gehen und interessierte Menschen beim Studium und der praktischen Ausübung der buddhistischen Religion anzuleiten.
Im Mai 1979 traf Geshe Thubten Ngawang in Deutschland ein und war hier bis zu seinem Tod im Januar 2003 Geistlicher Leiter. Geshe-la unterrichtete in der Anfangszeit ausgiebig den Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim) und Shantidevas „Einritt in das Leben zur Erleuchtung“.
Schnell kamen die ersten enthusiastischen Schüler, die sich dazu entschlossen, bei ihm zu leben und ihr Leben dem Dharma zu widmen: Christof Spitz, Carola Roloff und Oliver Petersen, die alle drei die Gelübde der vollen Ordination annahmen. Später kamen Jürgen Manshardt und Lydia Muellbauer hinzu. Sie lernten Tibetisch, auch die tibetische Debatte, erhielten täglich Unterricht und verbrachten glückliche Jahre an der Seite ihres Lehrers.
Die ständige Präsenz Geshe-las trug dazu maßgeblich bei, dass eine stabile Gemeinschaft von Praktizierenden heranwachsen konnte, die viele Jahre unter seiner qualifizierten Anleitung studierte und Erfahrungen machte.
Die geistige Ausstrahlung eines Meisters wie Geshe Thubten Ngawang zog im Laufe der Jahre immer mehr Menschen an, die ihre spirituelle Heimat im Tibetischen Zentrum fanden. Das Zentrum zog 1983 in sein eigenes Haus nach Hamburg-Rahlstedt um, wo es auch heute noch beheimatet ist.
Hier entstand 1988 das Meisterwerk Geshe Thubten Ngawangs: das Systematische Studium des Buddhismus. Geshe-la hatte hier in seiner ihm eigenen Kreativität die Essenz des traditionellen, sehr ausgedehnten Klosterstudiums zusammengefasst und gemeinsam mit seinem Übersetzer Christof Spitz für westliche Schüler aufbereitet.
Ein wesentliches Ziel Geshe-las war es auch, durch das Studium westliche Schüler zu qualifizieren, so dass diese den Buddhismus solide und korrekt vermitteln können. Immer bemühte er sich, den Dharma in diese Kultur zu pflanzen und ihn langfristig auch von den tibetischen Lehrkräften zu emanzipieren.
In der Einrichtung des Studiums spiegelt sich die sehr langfristige Perspektive wider, die Geshe Thubten Ngawang hier verfolgte: Er wollte seinen Schülern nicht nur Lebenshilfe und buddhistische Ratschläge geben, sondern den Buddhismus hierher überliefern.
Mitte der 90er Jahre sah Geshe Thubten Ngawang die Notwendigkeit, neben dem Studium einen Ort für die Praxis zu haben. „Da die Studien leicht in Vergessenheit geraten, sie aber für das tägliche Leben einen weitreichenden Nutzen haben, ist es wichtig, den Geist immer mehr mit den Inhalten vertraut zu machen und ihn in der Meditation daran zu gewöhnen,“ so begründete er die Notwendigkeit eines Meditationshauses.
Die Suche nach einem geeigneten Ort nahm einige Zeit in Anspruch und endete in Schneverdingen, Lüneburger Heide. Dort bezog das Tibetische Zentrum im August 1996 die neuen Räume auf dem liebevoll angelegen Landsitz. Unter der persönlichen Anleitung Geshe-las konnten seine Schüler nun verschiedene Formen der Meditation erlernen und ihre Erfahrungen mit ihm austauschen. Auch gab es endlich die Möglichkeit, tantrische Klausuren zu machen und aufwendige Rituale wie Feuerpujas auszuführen. Es war ein weiterer Schritt zur Vertiefung und Vervollständigung der Dharmapraxis.
Bereits Ende der 90er Jahre bat Geshe Thubten Ngawang einen jüngeren tibetischen Gelehrten, Geshe Pema Samten, ihn bei seinen Aufgaben in Hamburg und Schneverdingen zu unterstützen. Dieser traf Anfang Januar 2003 hier ein.
Geshe-la selbst widmete sich den „Vorbereitenden Übungen“, denn er plante die traditionelle Drei-Jahresklausur. Doch dazu kam es leider nicht mehr. Im November 2002 erkrankte er schwer an Krebs und verstarb am 11. Januar 2003 im Meditationshaus. Bis zuletzt war es sein Ziel, dem Einzelnen die praktische Anwendung der gesamten Lehre des Buddha zu ermöglichen, die von klar begründetem Vertrauen, Einsicht und Zuversicht getragen wird.